Numărul 1 / 2007

 

 

SPUREN DER RECHTSGESCHICHTE IN MOZARTS DA PONTE-OPERN

 

Prof. Dr. iur. Reinhard MUSSGNUG*

Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Institut für Finanz- und Steuerrecht

 

 

Abstract: Traces of law history in Mozart's da Ponte opera. Whoever intends to discover legal aspects in Mozart's da-Ponte operas, shouldn't attack them with the same questions, with which the district court judge from Gifhorn/Lueneburg Ernst von Pidde tried to cope with Richard Wagner's "Ring" in his treatise from 1968 "Richard Wagner's 'The Ring of the Nibelung' in the Light of German Penal Law". Piddes analysis without doubt distinguishes itself by a certain entertainment value for which the lawyers among the German Wagnerians hold it in high regard. Nevertheless its benefit for jurisprudence tends towards zero, and it entertains just mediocrely to discuss

-         whether Don Giovanni has committed murder in the sense of sec. 211 or just manslaughter in the sense of sec. 212 of the German Penal Code with the killing of Donna Anna's father at the beginning of the opera to which he has given his name,

-         if the maid Despina should have been punished for unlawful assumption of authority according to sec. 132 PC for feigning the notary in the finale of "Cosi fan tutte";

-         or if Count Almaviva and his county judge Don Curzio are guilty of perversion of justice in the sense of sec. 339 PC for sentencing Figaro to marry Marzellina in the third act of "The Marriage of Figaro".

The search for the traces the legal zeitgeist of the late 18th century has left within the three librettos Lorenzo da Ponte has written for Wolfgang Amadeus Mozart promises far more yield for jurisprudence and its history. "Cosi fan tutte" provides at least the topics for a remark about the history of matrimonial law. In "Don Giovanni" distinctly more then just the material for a legal footnote is to be found. "The Marriage of Figaro" in the end can't be understood correctly without some knowledge of legal history; this opera after all deals in it's first three acts with the law suite "Figaro versus Marzellina for marriage or payment", which, as it's mis- and none-understandings by the contemporary opera directors proof, urgently needs some legal and historic explanations.

Kurzfassung: Wer Mozarts da-Ponte-Opern juristische Aspekte abgewinnen möchte, sollte nicht mit dem gleichen Ansatz über sie herfallen, mit dem der Gifhorner Amtsrichter Ernst von Pidde in seiner 1968 erschienen Schrift „Richard Wagners ‚Ring des Nibelungen' im Lichte des deutschen Strafrechts", versucht hat, Richard Wagners „Ring" rechtswissenschaftlich beizukommen. Piddes Studie besitzt zwar einen gewissen Unterhaltungswert, wegen dessen die Juristen unter den deutschen Wagnerianern sie zu schätzen wissen. Es bringt die Rechtswissenschaft jedoch nicht weiter und unterhält auch nur mäßig, darüber zu fachsimpeln,

-         ob die von Don Giovanni verübte Tötung des Komturs als Mord unter den § 211 oder nur als Totschlag unter den § 212 des Strafgesetzbuchs zu subsumieren ist;

-         ob die Zofe Despina wegen Amtsanmaßung im Sinne des § 132 StGB hätte bestraft werden müssen, weil sie im Finale von „Cosi fan tutte" den Notar gemimt hat;

-         oder ob Graf Almaviva und sein Gerichtsassessor Don Curzio mit ihrem Urteil in dem Zivilprozeß „Figaro versus Marzellina" im dritten Akt von „Figaros Hochzeit" Rechtsbeugung im Sinne des § 339 StGB begangen haben.

Weit mehr juristischen Ertrag verspricht es, nach den Spuren zu suchen, die der rechtspolitische Zeitgeist des späten 18. Jahrhunderts in den drei Libretti hinterlassen hat, die Lorenzo da Ponte für Wolfgang Amadeus Mozart verfaßt hat. „Cosi fan tutte" liefert immerhin das Material zu einer eherechtsgeschichtlichen Randbemerkung. Im „Don Giovanni" findet sich Stoff für bereits etwas mehr als nur eine rechtshistorische Fußnote. Zu Figaros Hochzeit liefert er die rechtsgeschichtlichen Erklärungen, ohne die diese Oper nicht zu verstehen ist; es geht in ihr schließlich drei Akte lang um den Rechtsstreit „Figaro versus Marzellina wegen Heirat oder Zahlung", der, wie sein Mißverstehen oder gar Ignorieren durch das moderne Regietheater beweisen, dringend der fachkundigen rechtshistorischen Erläuterung bedarf.

 

 

Cosi fan tutte und die Josefinische Eherechtsreform[1]

Der sonderbare Notar Beccavivi

In Cosi fan tutte zieht das Finale das Augenmerk des Juristen auf sich. Don Alfonso hat seine Wette gewonnen. Fiordiligi und Dorabella sind endlich bereit, anstelle ihrer angeblich im Krieg weilenden Verlobten Ferrando und Guglielmo die beiden ihnen ins Haus geschneiten Neuankömmlinge Sempronio und Tizio zu heiraten. Hinter dem von Fiordiligi auserkorenen Sempronio verbirgt sich jedoch Dorabellas orientalisch kostümierter Guglielmo, hinter dem angeblichen Tizio, für den sich Dorobella entschieden hat, in Wahrheit Fiordiligis in gleicher Weise verkleideter Ferrando. Um zu verhindern, daß dieser Schwindel vorzeitig aufkommt, besteht Don Alfonso darauf, daß „noch heute Abend Doppelhochzeit gefeiert wird"[2]. Also läßt er die Zofe Despina den Notar mimen und zur Trauung der beiden vertauschten Paare schreiten. „Per contratto da me fatto, si congiunge in matrimonio Fiordiligi con Sempronio, e con Tizio Dorabella"[3], sagt der von Despina verlesene und von den beiden treulosen Bräuten eilfertig unterzeichnete Ehevertrag.

Das ist, wenn man es genau beim Wort nimmt, ein juristischer Gallimathias. Ehen werden bekanntlich nicht vor dem Notar, sondern vor dem Standesbeamten und nicht durch Ehevertrag, wie Despina alias Dr. Beccavivi das behauptet[4], sondern durch Trauung geschlossen. Zu Mozarts und da Pontes Zeiten, als man die Zivilehe noch nicht kannte, lag die Trauung noch ausschließlich in der Kompetenz der Kirchen. Aber auch das Kirchenrecht verlangte für die Heirat eine übereinstimmende Erklärung der Brautleute „vor dem zuständigen Pfarrer und zwei Zeugen"[5]. Das hätte da Ponte, immerhin Absolvent eines Priesterseminars[6], eigentlich wissen müssen. Warum also läßt er Despina den Notar mimen? Hätte er sie nicht im Gewand des Priesters antreten lassen sollen?[7]

Da Pontes und Mozarts Tribut an die josefinische Eherechtsreform?

Aber vielleicht hat sich da Ponte bei Despinas Verkleidung als Notar statt als Priester mehr gedacht als wir vorschnell vermuten? Ungenaues Vorbeischwadronieren an der konkreten Wirklichkeit war jedenfalls nicht seine Sache. In Cosi fan tutte mußte er zwar die Augen davor verschließen, daß keine Frau derart mit Blindheit geschlagen ist, daß sie ihren Verlobten auch unter einer noch so perfekten Maske nicht zumindest an der Stimme sofort wiedererkennen würde[8]. Für die merkwürdige Trauung vor dem Notar statt vor einem Priester indessen gibt es keine dramaturgische Erklärung. Da Ponte und Mozart hätten sie wohl kaum aufgetischt, wenn nicht irgendein anderer plausibler Grund sie ihnen nahegelegt hätte. Studiert man die innenpolitische Situation im Wien des Jahres 1790, des Todesjahrs Kaiser Josefs II.[9], genauer, so tritt zu Tage, wo dieser Grund zu suchen sein könnte.

Josef II. ragt zusammen mit Friedrich dem Großen als Vertreter des aufgeklärten Absolutismus und Reformator unter den Monarchen seiner Zeit heraus. Anders als Friedrich der Große hatte Josef II. mit seinen Reformen aber nicht immer eine glückliche Hand. Das schwingt mit, wenn wir vom „Josefinismus" reden. Eine der besonders umstrittenen josefinischen Reformen bestand in einer radikalen Säkularisation des Eherechts. Josef II. wollte nicht dulden, daß die Kirche die Antwort auf die Frage, wer wen heiraten darf, gegen die staatliche Gesetzgebung abriegelte mit der Begründung, die Ehe sei ein Sakrament, das sich der Regelung durch profane Gesetze und der Verwaltung durch staatliche Behörden entziehe. Das faßte er als Kampfansage an den modernen säkularen Staat auf, den er in seinen Landen zu errichten gedachte.

Das Credo dieses neuen Staates gründete sich darauf, daß er und nur er allein über seine Rechtsordnung bestimme. Wegen der Mischehen bildete das Eherecht dabei einen besonders heiklen Punkt. Daß die Kirche den Katholiken die Heirat mit Protestanten, Orthodoxen und Juden verbot, während er religiöse Toleranz predigte, war für Josef II. nicht akzeptabel. Drum munitionierte er sich gegen das kanonische Ehehindernis der Konfessionsverschiedenheit mit der in der profanen Jurisprudenz seit dem frühen 18. Jahrhundert im Vordringen begriffene These auf, die Ehe sei, gleichgültig, wie die Kirche sie qualifiziere, primär ein bürgerlich-rechtlicher Vertrag, den die Brautleute unter sich auszumachen hätten, ohne dabei irgendwelchen anderen als den staatlichen Eherechtsnormen gehorchen zu müssen[10]. Die Trauung überließ Josef II. allerdings weiterhin den Kirchen. Er zwang sie jedoch, jedes Paar zu trauen, dem das staatliche Recht die Eheschließung gestattete, ein Kunstgriff, mit dem er die Pfarrer unter der Hand in die Botmäßigkeit des Staates zwang. Die Pfarrer hatten das Sakrament der Ehe primär nach staatlichem Recht zu verwalten und sich dabei eine strenge Aufsicht der kaiserlichen Regierung gefallen zu lassen. Sie waren zur Trauung verpflichtet, wenn einer der beiden Verlobten zu ihrer Gemeinde gehörte. Damit standen die Kirchen schlechter da als heute, wo sie über die kirchliche Trauung autonom befinden. Das Josefinische Eherecht nötigte ihre Pfarrer dazu, auch konfessionsverschiedene Ehen zu trauen. Lediglich religionsverschiedene Ehen brauchten die Kirchen nicht zu trauen, das jedoch nur deshalb nicht, weil die Religionsverschiedenheit auch für das staatliche Recht, anders als die bloße Konfessionsverschiedenheit, als Ehehindernis galt[11].

Das war 1790, im Entstehungsjahr von „Cosi fan tutte" bereits seit sieben Jahren geltendes Recht. Das Ehepatent vom16. Januar 1783 bestimmte in seinem § 22: „Der Ehevertrag selbst wird geschlossen, wenn eine Manns- und eine Weibsperson einwilligen, miteinandern in eine unzertrennliche Gemeinschaft zu treten, um Kinder zu erzeugen, und der diesem Stande anklebenden Gerechtsame zu geniessen." § 29 fügte dem hinzu: „Es wird aber hiermit erkläret, daß nicht jede ausgedruckte Einwilligung zur Schließung der Ehe für hinlänglich anerkennet werde, sondern zur Wesenheit dieses Contractes, und als eine zu dessen Gültigkeit unumgängliche Bedingniß wird vorgeschrieben, daß die beyderseitige Einwilligung zur Ehe in Gegenwart des Pfarrers, Pastors oder Popen, in dessen Pfarre oder Sprengel die Brautleute wohnhaft sind, und in Beyseyn zweyer Zeugen ausgedruckt werde". „Wo Bräutigam und Braut unter verschiedene Pfarrbezirke gehören", genügte es jedoch gemäß § 30, „wenn die eheliche Einwilligung entweder vor dem Pfarrer, Pastor oder Popen des Bräutigams, oder vor dem Pfarrer, Pastor oder Popen der Braut erkläret wird." Mit seinem Abstellen auf die Zugehörigkeit nur eines der beiden Ehewilligen zum Pfarrbezirk des um die Trauung gebetenen Geistlichen und mit der Enumeration von Pfarrer (katholisch), Pastor (evangelisch) und Pope (orthodox) erkannte § 30 die konfessionsverschiedene Ehe etwas verklausuliert, aber doch unmißverständlich für das staatliche Recht als zulässig an.

Hier haben wir, was bei „Cosi fan tutte" so befremdlich wirkt: Die Trennung zwischen dem Ehevertrag, den die Brautleute miteinander aushandeln, und der Trauung in der Kirche, die diesen Vertrag in Geltung zu setzen hatte. Für den Ehevertrag notarielle Hilfe in Anspruch zu nehmen, war in der Oberschicht, zu der auch Fiordiligi und Dorabella gehörten, durchaus üblich. Auch der Ochs von Lerchenau läßt im „Rosenkavalier" die Marschallin wissen „An Euer Gnaden Notari eine Rekommandation. wäre mir lieb. Es handelt sich um den Ehvertrag".

Bei „Cosi fan tutte" wirkt bei Lichte besehen also nur ungewöhnlich, daß da Ponte und Mozart den Notar und den Ehevertrag so auffällig in den Vordergrund rücken. Denn das fait accompli der Doppelhochzeit „ancor questa sera", um das es Alfonso seiner Wette wegen so sehr zu tun war, war allein mit dem Notar und dem Ehevertrag nicht zu erreichen. Aber vielleicht hatten da Ponte und Mozart bei der Vertauschung des für das „congiungere in matrimonio" zuständigen Priesters gegen den dafür absolut inkompetenten Notar einen Hintergedanken fern ab von jeder Dramaturgie?

Das Ehepatent von 1783 war den Kirchen ein Dorn im Auge. Sie haben von allen Kanzeln gegen die Verketzerung der Ehe vom Sakrament zum privaten Rechtsgeschäft wettern lassen. Der Kaiser indessen hütete es wie seinen Augapfel. Das könnte da Ponte und Mozart, die beide dringend auf Josefs II. Wohlwollen angewiesen waren, Anlaß zur Vorsicht gegeben haben. Despina im Gewand des Notars statt in dem des Priesters schützte sie vor dem Vorwurf, Schleichwerbung für die kanonische Ehe zu treiben. Daß Mozart und da Ponte das bedacht haben, läßt sich nicht beweisen. Aber vermuten darf es man wohl doch.

Der ewig unterschätzte Don Ottavio

Don Ottavio: ein tatenscheuer Tugendbold?

Im Don Giovanni verdient die Figur des Don Ottavio das Interesse des Juristen. Das Bild, das wir uns von ihm machen, hat E. T. A. Hoffmann geprägt. In seiner schnell berühmt gewordenen Don Juan-Novelle aus dem Jahr 1812[12] überhöht er den Wüstling Don Giovanni zur Lichtgestalt, „von der Natur wie ihrer Schoßkinder liebstes mit alle dem ausgestattet, was den Menschen, in näherer Verwandtschaft mit dem Göttlichen, über den gemeinen Troß ... erhebt"[13]. Don Ottavio, Don Giovannis Gegenspieler, indessen hebt nichts aus dem „gemeinen Troß" heraus. Ihn tut Hoffmann ab als „ein zierliches, geputztes, gelecktes Männlein", das „nachts nicht gern sich herauswagen" mag und erleichtert aufatmet, als es „der Himmel des gefährlichen Rächeramts glücklich überhoben hat", das er an Don Giovanni hätte vollziehen sollen, aber nicht zu vollziehen brauchte, weil dieser ohne sein Zutun zur Hölle gefahren ist. Bei Sören Kierkegaard[14] kommt Don Ottavio fast noch schlechter weg. Kierkegaard sähe ihn am liebsten zusammen mit Donna Anna aus dem Libretto und der Partitur gestrichen; beide seien „zu unbedeutende Personen, als daß sie den Gang der Handlung aufhalten dürften"[15].

Seit dieser üblen Nachrede steht Don Ottavio im Geruch des Schwächlings, dem der Mut zu der rächenden Tat abgeht, die sich nicht nur seine von Don Giovanni schwer gekränkte Braut Donna Anna von ihm erhofft, sondern so gut wie jedermann von ihm, dem spanischen Edelmann, glaubt erwarten zu dürfen. Auf der Bühne tritt Don Ottavio seither meist als ein trotz schöner Stimme ziemlich temperamentloser Evangelimann auf, der sich neben Don Giovanni, einem Kerl so recht zum Fürchten und Bewundern, arg harmlos ausnimmt.

Da Pontes Libretto scheint dieses Urteil zu stützen. Es stattet Don Ottavio mit deutlich sanftmütigeren Zügen aus, als Tirso de Molina und Molière sie in ihren Don-Juan-Versionen den Gegenspielern des Don Juan verleihen. Bei Tirso hat Don Juan gleich zweimal im Schutze der Dunkelheit Damen in ihren Gemächern überfallen, zuerst in Neapel die Herzogin Isabella, dann in Sevilla Doña Anna de Ulloa. Sowohl Herzog Ottavio der Vertraute Isabellas, als auch Markgraf de la Mota, der Bräutigam Doña Ulloas, bitten umgehend, comme il faut, um die königliche Erlaubnis, Don Juan die Kränkung ihrer Damen mit einer Duellforderung vergelten zu dürfen. Kaum anders bei Molière: Hier sinnen die beiden Brüder Donna Elviras auf Rache für das üble Spiel, das Don Juan mit ihrer Schwester getrieben hat. Carlos, den einen der beiden, hat Don Juan jedoch, ohne von ihm erkannt zu werden, unter Lebensgefahr aus den Händen einer Räuberbande gerettet und ihn sich damit zu Dank verpflichtet. Drum muß Carlos widerwillig Don Juan „Aufschub um einen Tag" gewähren. Aber das tut er nicht, ohne unmißverständlich klarzustellen, daß er ihm bei der nächsten sich nach Ablauf dieses einen Tages bietenden Gelegenheit „mit der gleichen Sorgfalt seine Beleidigung wie seine Wohltat heimzuzahlen" gedenke. Selbst Don Ottavios eingedeutscher Namensvetter Octavian aus dem Rosenkavalier „fuchtelt", wiewohl bei weitem noch nicht trocken hinter den Ohren, „mit dem Spadi", als der Ochs von Lerchenau der Sofie Faninal gegenüber das nötige Taktgefühl vermissen läßt.

Wie so ganz anders Mozarts und da Pontes Don Ottavio! Auch er geizt zwar nicht mit bewegter Anteilnahme an dem Leid, das Don Giovanni seiner Braut zugefügt hat. Er ruft sogar nach Eau de Cologne und stärkenden Getränken[16]. Aber ansonsten unternimmt er nichts. Auch als Donna Anna in Don Giovanni den Eindringling wiedererkennt, der sie vergewaltigten wollte und ihren Vater umgebracht hat[17], bleibt Don Ottavio untätig. Er verlangt weitere Beweise. „Ist seine Tat erwiesen, werd' ich sie rächen", erklärt er. Vorerst indessen sieht Don Ottavio noch immer keinen Handlungsbedarf. Erst Don Giovannis Übergriff auf Zerlina am Ende des Ersten Akts und vollends dessen Bubenstück, sich bei Donna Elvira von seinem Diener Leporello vertreten zu lassen, öffnen Don Ottavio endlich die Augen. Nun räumt er ein „Nach so schweren Schandtaten können wir nicht länger daran zweifeln, daß Don Giovanni der gottlose Mörder von Donna Annas Vater ist"[18]. Aber zur Tat schreitet Don Ottavio noch immer nicht. Jetzt beruhigt er sich damit, daß Don Giovanni „seinem Richter" nicht entrinnen werde. So jedenfalls legt ihm das die traditionelle deutsche Übersetzung in den Mund[19]. Sie degradiert Don Ottavio vollends zum tatenscheuen Schönredner. Denn wer sollte der „Richter" sein, dem Don Giovanni nicht entgehen wird? Wer so wie Don Ottavio in der deutschen Version des Libretto spricht, der kann nur den Richter meinen, vor den Don Giovanni am Jüngsten Tag gerufen werden wird. Statt der rächenden Tat also erneut eine Vertröstung, dieses Mal eine endgültige? Hätte Don Ottavio das wirklich gesagt, so hätte ihm E. T. A. Hoffmann zu Recht unterstellt, er warte nur darauf, bis „ihn der Himmel des gefährlichen Rächeramts" überheben werde. Auch Kierkegaards Unwillen über diesen Opernhelden, der nur singt, aber so gar nichts Heldenhaftes tut, wäre die Berechtigung nicht abzusprechen.

Doch der deutsche Text trügt. In da Pontes italienischem Original macht Don Ottavio eine weit bessere Figur. Dort beruft er sich keineswegs auf den himmlischen Richter, dem dereinst keiner, einstweilen aber jeder entkommt. Er erklärt Donna Anna vielmehr höchst einleuchtend, was er zu tun beabsichtigt. „Un ricorso vo far a chi si deve", zu deutsch: „Ich will Beschwerde erheben, bei dem, bei dem man das tun muß", oder etwas freier übersetzt: „Ich will Anzeige gegen Don Giovanni erstatten dort, wo man dafür zuständig ist."[20] Daß dies der Sinn des „fare un ricorso a chi si deve" ist, bestätigt die scena ultima, wo Don Ottavio „con ministri di giustizia" zum Schlußsextett erscheint, mit Justizbeamten also, die Don Giovanni festnehmen sollen. Mit diesen Vertretern der Staatsgewalt kommt Don Ottavio zwar zu spät. Daß er sie in das Haus Don Giovannis führt, beweist jedoch, daß er durchaus entschlossen war, dessen Verbrechen der verdienten Strafe zuzuführen und reiflich überlegt hat, wie das am besten zu bewerkstelligen sei[21]. Don Ottavio ist also mitnichten das harmlose „Männlein", als das E. T. A. Hoffmann ihn diffamiert. Er spielt nicht den Heißsporn. Aber er bleibt keineswegs untätig. Er bewahrt kühlen Verstand und tut genau das Richtige: Statt sich auf einen Zweikampf von ungewissem Ausgang einzulassen, bei dem der Raufbold Don Giovanni sich gute Chancen ausrechnen könnte, will er ihn vor Gerichte ziehen, wo er sich nicht mit dem Degen heraushauen kann.

Damit wählt Don Ottavio den Weg der Vernunft und zugleich den Weg, den der moderne Rechtsstaat vorzeichnet, wenn es gilt einen Übeltäter der verdienten Strafe zuzuführen. Wie die statt im Gewand des Priesters in dem des Notars auftretende Despina in „Cosi fan tutte" so erweist sich darin auch Don Ottavio als josefinische Figur.

Die Spur Josefs II. im Don Giovanni

In Josef II. Reformprogramm spielten auch der Kampf gegen die Selbsthilfe und das Duell eine wichtige Rolle. Bereits Maria Theresia hatte beides verboten. Josef II. hat die Strafen verschärft. Wer einen anderen zum Duell forderte und tötete, den ließ er „wie jeden gemeinen Mörder" bestrafen, also mit einer Gefängnisstrafe zwischen 15 und 30 Jahren; tötete der Geforderte seinen Herausforderer, so kam er glimpflicher davon; ihm drohten „nur" 8 bis 12 Jahre. Selbst die unschädlich ausgegangenen Duelle wurden streng geahndet[22]. Dabei standen humanitäre Erwägungen im Vordergrund. Josef II. bekämpfte den Zweikampf jedoch nicht nur wegen des Leids, das er über die Familien seines Landes gebracht hat. Zumindest ebenso nachhaltig schlug zu Buch, daß im Duellwesen wie in der Vorliebe für eigenmächtige Selbsthilfe eine alte Abneigung des Adels fortlebte, in Rechtshändeln die Hilfe der staatlichen Gerichte in Anspruch zu nehmen. Den Rangniedrigeren wies man kurz angebunden auf eigene Faust in seine Schranken. Den Standesgenossen forderte man zum Duell[23]. Wer dazu Manns genug war, der brauchte kein Gericht. Wer das Gericht in Anspruch nahm, der war nicht Manns genug, vor allem nicht Edel- und Ehrenmanns genug,

Diese Standesattitüde des Adels stellte das Strafmonopol des Staats in Frage. Sie erhob den Anspruch, Rechtskränkungen, die einen selbst trafen, nach Gutdünken eigenmächtig strafen zu dürfen. Außerdem regulierte sie die adelsinterne Kriminalität in einer Weise, die die Täter über Gebühr schonte. Sie ersparte ihnen die Schande der Gerichtsverhandlung und schützte sie vor der ehrenrührigen Bestrafung durch das Gericht. Davon abgesehen endete das Duell nicht immer zum Nachteil dessen, der es durch sein Fehlverhalten veranlaßt hat. Oft genug ging der Übeltäter als Sieger vom Kampfplatz; dann triumphierte die böse Tat vollends über ihr unschuldiges Opfer. Das konnte kein Monarch dulden, der wie Josef II. Gerechtigkeit für alle ohne Rücksicht auf Rang und Stand forderte[24]. Wäre Josef II. nicht mit unerbittlicher Strenge gegen die Selbsthilfe und den Zweikampf eingeschritten, so hätte er dem Adel das Recht des Stärkeren belassen. Darum sein energischer Kampf gegen das Duell und die Selbstjustiz. Auch bei diesem Kampf ging es um die Stabilisierung der Staatsgewalt und der monarchischen Souveränität.

Unter diesen Umständen hätte ein Don Ottavio, der als rachedurstiger Klopffechter daherkommt, political höchst incorrect gewirkt. Als Mann des Rechts indessen repräsentierte er die mit Josef II. angebrochene neue Zeit. Er warb für den Kaiser und dessen Rechtserneuerung. Ob man ihn mit Dieter Borchmeyer[25] einen „Mann der Zukunft" nennen kann, steht auf einem anderen Blatt. Er war wohl mehr ein „Mann der Gegenwart", eben seiner Gegenwart des Jahres 1787. Darauf dürfte da Ponte es bewußt angelegt haben. Auch Mozart wird genau gewußt haben, warum sein Don Ottavio, anders als Tirso de Molinas und Molières Kampfhähne, nicht als rüder Vertreter des Faustrechts auftreten durfte, sondern seinem Tatendrang die vernunftrechtlichen Fesseln der Aufklärung anlegen mußte.[26] Da Ponte und Mozart haben ihren Don Ottavio als ihr und nur ihr Geschöpf erschaffen. Dieser Don Ottavio ist in der Don-Juan-Tradition Tirso de Molinas und Beaumachais etwas Neues. Es spricht alles dafür, daß da Ponte das so gewollt und Mozart es so für richtig befunden hat.[27]

Daß Don Ottavio nicht mit Gewalt, sondern „due process of law" gegen Don Giovanni vorgeht, macht ihn also mitnichten zur Memme. Es verwundert, daß E. T. A Hoffmann das anders sah. Als kundiger, vielfach erprobter Jurist hätte Don Ottavio nicht beschimpfen dürfen; er hätte sich vorbehaltlos auf seine Seite schlagen sollen![28] Noch unverständlicher bleibt allerdings, daß die Botschaft, die da Ponte und Mozart ihrem Don Ottavio anvertraut haben, in so gut wie allen Inszenierungen einfach unterschlagen wird. Wird deutsch gesungen, so sorgt dafür die fehlerhafte Übersetzung; in den Aufführungen, die das italienische Original verwenden, wird über seine entscheidende Aussage achtlos hinweggesungen. Eine nicht nur von E. T. A Hoffmann und Kierkegaard, sondern auch von der Rechtsgeschichte inspirierte Aufführungspraxis sollte dem abhelfen.

Figaro vor Gericht

Der Zivilprozeß Marzellina versus Figaro wegen Heirat oder Zahlung

In „Figaros Hochzeit" hat die Rechtsgeschichte, wie eingangs bereits angedeutet, mehr als nur Spuren hinterlassen. Hier steuert sie mit einem Zivilprozeß unter dem Rubrum „Marzellina gegen Figaro wegen Heirat oder Zahlung" den Stoff für ein juristisches Seitenthema bei, das die Handlungsfäden drei Akte lang zusammenhält und auf das Finale des vierten Aktes hintreibt. Das läßt sich nicht mit knappen Worten nacherzählen. Dazu intrigieren allzu viele Personen gegen- und durcheinander. Was es mit Marzellinas Prozeß auf sich hat, ist jedoch rasch berichtet:

Marzellina, eine bereits etwas angejahrte Sevillanerin, klagt gegen Figaro, vormals Friseur in Sevilla[29], jetzt Hausbediensteter beim Grafen Almaviva. Sie beantragt, Figaro entweder zur Ehe mit ihr oder zur Rückerstattung von 2.000 Gulden zu verurteilen. Sie trägt vor, sie habe Figaro die geforderte Summe überlassen, weil dieser ihr die Ehe versprochen habe[30]. Sie legt eine von Figaro unterzeichnete Schuldurkunde vor[31]. Außerdem erscheint der Zeuge Basilio und bestätigt, daß Figaro Marzellina gegen geliehenes Geld die Heirat versprochen habe[32]. Figaro hat sich jedoch mit Susanna, der Kammerzofe der Gräfin Almaviva, anderweitig verlobt. Mit ihrer Klage möchte Marzellina Figaros Ehe mit Susanna hintertreiben. Sie vertraut darauf, daß Figaro die 2.000 Gulden nicht aufbringen kann und deshalb an das ihr gegebene Heiratsversprechen gebunden bleibt.

Folgt man Marcellinas Vorbringen, so hat ihr Figaro die Rückzahlung der 2.000 Gulden oder die Heirat wahlweise zugesagt[33]. Ein solches Wahlschuldversprechen verpflichtet den Schuldner zu einer der alternativ versprochenen Leistungen, überläßt aber die Entscheidung, welche von ihnen er erfüllen möchte, seinem freien Belieben. So sagt es heute § 262 BGB. Zu Figaros Zeiten sagte das damals als Gemeines Recht europaweit gültige Römische Recht das Gleiche[34]. Das geltende deutsche und das Gemeine Recht stimmen auch darin überein, daß sie die Wahlschuld als den einzigen Fall anerkennen, der einen alternativen Klageantrag rechtfertigt[35]. Reagiert der Schuldner auf das „entweder/oder", das die Wahlschuld kennzeichnet, mit einem „weder/noch", so geht das Wahlrecht nicht etwa auf den Gläubiger über. Das widerspräche dem Wesen der Wahlschuld. Der Schuldner, der pflichtwidrig nicht wählt, kann daher nur mit einer Alternativklage zur Räson gebracht werden, die im Falle ihrer Begründetheit zu einer alternativen Verurteilung führt. Marzellinas Klage scheitert also nicht etwa daran, daß alternative Klageanträge an sich a limine unzulässig sind. Aber begründet ist ihre Klage nur zur Hälfte. Denn Figaros Heiratsversprechen hat nur eine Naturalobligation begründet, deren Erfüllung nicht gerichtlich durchgesetzt werden kann. Auch das hat das Gemeine Recht ebenso gesehen, wie das heute die §§ 1297 BGB und 888 Abs. 3 ZPO klarstellen. Das christliche Verständnis der Ehe duldet Zwangsheiraten ebensowenig wie das säkularisierte des freiheitlichen Rechtsstaats, das Art. 6 GG und Art. 12 EMRK zugrunde liegt.

Hätte Marcellina vor einem rechtskundigen, unabhängigen und unparteiischen Gericht geklagt, so hätte Figaro daher schlimmstenfalls eine Verurteilung zur Zahlung der ominösen 2.000 Gulden gedroht. Vor der Verurteilung zur Eingehung der Ehe mit Marcellina wäre er sicher gewesen. Das hätte ihn zwar nicht vor dem Schuldturm geschützt. Aber er hätte immerhin Susanna ungehindert heiraten und mit ihrer Hilfe den an Marcellina zu zahlenden Betrag, wenn nicht aufbringen, so doch mehr oder weniger rasch abstottern können. Hätte Figaro auf ein korrektes Urteil hoffen dürfen, so hätte er also keinen Grund zur dramatischen Verzweiflung, sondern allenfalls Anlaß zu einem für die Opernbühne kaum ausreichenden Quantum an Selbstmitleid gehabt. Für Marcellinas Klage war jedoch das Gräflich Almavivaische Patrimonialgericht zuständig. Auf dessen Rechtskenntnis war ebensowenig Verlaß wie auf seine Unabhängigkeit, seine Unparteilichkeit und seine Gerechtigkeit.

Das Gräflich Almavivaische Patrimonialgericht spielt in den ersten drei Akten der Oper eine von den Dramaturgen und Regisseuren meist nicht hinreichend gewürdigte Schlüsselrolle. Es ist das willfährige Werkzeug, dessen sich alle bedienen, die Figaro übel wollen. Marcellina möchte mit seiner Hilfe Figaro unter ihr Ehejoch zwingen. Ihr Prozeßbeistand Dr. Bartolo, dem sie den Haushalt führt, „hätt' wahrlich Lust, dem, der mir die Entführung meiner Geliebten angetan hat, meine angestaubte Haushälterin zur Frau zu verschaffen"[36]. Graf Almaviva, der Gerichtsherr, mischt am Komplott gegen Figaro unverhohlen mit. Er hat ein Auge auf Susanna geworfen und erhofft sich von Figaros Verurteilung zur Ehe mit Marcellina freie Bahn bei ihr. Drum sorgt er im Hintergrund für ein Urteil nach seinem Geschmack: „A piacer mio la sentenza sarà!"[37] Don Curzios, des Gerichtshalters Almavivas, Urteil fällt so denn auch aus wie gewünscht: „O pagarla, o sposarla! - Bezahlen oder heiraten". Es ist ein krasses Fehlurteil. Aber der Graf ist mit ihm und seinem Richter rundum zufrieden. „È giusta la sentenza. Bravo Don Curzio! - Das Urteil ist gerecht. Bravo Don Curzio" lobt er das Urteil und den Richter. Figaro muß sich also auf ein Leben an der Seite der ungeliebten Marcellina gefaßt machen. Die Berufung auf die Unvollstreckbarkeit des Urteils auf Eingehung der Ehe versprach bei Don Curzio und dem Grafen Alamaviva keine Abhilfe. Wenn ein Richter ein solches Urteil erläßt, und sein Gerichtsherr es bedenkenlos bestätigt, dann schrecken beide auch vor seiner Vollstreckung nicht zurück.

Dennoch kam es anders. Figaro rettete jene Art von Glück, mit der man nur auf der Komödienbühne, auf ihr dafür aber um so zuversichtlicher rechnen darf. Eine Tätowierung auf seinem Arm enthüllte seine bis dahin dunkle Herkunft: Figaro ist Marcellinas und Dr. Bartolos unehelicher Sohn. Unmittelbar nach seiner Geburt und seiner von Marcellina in kluger Voraussicht veranlaßten Kennzeichnung durch die Tätowierung[38] hatten ihn Räuber entführt, ein damals - jedenfalls in den Kreisen, die die Opernbühne bevölkern - recht häufiges Schicksal[39]. Damit hat sich Don Curzios Fehlurteil erledigt. Mit der Heirat der eigenen Mutter verlangt es von Figaro etwas allzu evident Unmögliches. Selbst um die Rückzahlung der 2.000 Gulden kommt Figaro herum. Marcellina erläßt sie ihm überwältigt von dem Glück, in ihm ihren Sohn wieder gefunden zu haben. Dr. Bartolo komplettiert das Happyend, indem er Marcellina die Hand zu einem späten, jedoch solideren Ehebund reicht als dem, den sie mit Figaro hätte begründen können.

Marcellinas Prozess - Dichtung oder Wahrheit?

So weit so gut. Aber wie reimt sich das alles zusammen? Ein Graf, der über ein eigenes Gericht gebietet und es schamlos zu seinem Vorteil mißbraucht? Ein unbedarfter Richter, dem selbst das kleine Einmaleins der Jurisprudenz Hekuba ist? Ein Gerichtsurteil, dessen Unmöglichkeit selbst Laien durchschauen, das aber gleichwohl alle Beteiligten bitter ernst nehmen? Das alles klingt derart unwahrscheinlich, daß sich der Verdacht aufdrängt, da Ponte tischte uns mit Marcellinas Prozeß eines jener mehr frei als gut erfundenen Phantasieprodukte auf, wie sie in der Traum- und Märchenwelt der Oper häufiger vorkommen. Man denke an den schlechterdings nicht nachvollziehbaren Partnertausch in Cosi fan tutte, an den Sonnenstaat des Sarastro in der Zauberflöte, an Don Giovannis Steinernen Gast, an Lohengrins Schwan, an die Freikugeln des Freischütz etc. etc. Als Phantasieprodukt fernab jeder Realität stellen die Opernführer, die Programm-Hefte der Opernhäuser, die Bühnenbildner und Regisseure den Marcellina-Prozeß in der Tat dar[40]. Sie tun ihn als eine satirische Imagination ab, die nur die Handlung voranzutreiben soll, ansonsten aber nichts zu bedeuten habe[41]. Sie irren sie gewaltig!

Beaumarchais, von dem da Ponte die Figaro-Handlung übernommen hat, hat den Marcellina-Prozeß keineswegs aus der Luft gegriffen. Er beschreibt mit ihm die rechtlichen und sozialen Bedingungen des Lebens auf den Adelssitzen des 18. Jahrhunderts, wenn auch nicht völlig frei von ironischen Überspitzungen, so doch im großen ganzen minutiös genau. Beaumarchais und in seinem Gefolge da Ponte tragen ein wenig grob auf, wie das in Komödien so üblich ist. Aber sie bleiben trotzdem dicht an der Wirklichkeit ihrer Zeit. Sie haben den adligen Gutsherrn des ausgehenden 18. Jahrhunderts im Blick, der nicht nur Eigentümer des zu seinem Gut gehörenden Landes, sondern auch der Herr über „seine Leute" war und in seinem Gutsbezirk hoheitliche Funktionen wahrgenommen hat.

Die zeitgenössische Terminologie bezeichnet den Gutsherren folgerichtig als die für sein Gut und seine Bewohner - in der Sprache der Zeit für „Land und Leute" - zuständige „Obrigkeit". Johann Sebastian Bachs Bauernkantate liefert dafür den wohl populärsten Beleg. Im Eingangschor singen die Bauern des Domäneguts Klein Zschocher bei Leipzig „Wir han en neue Oberkeet in unserm Kammerherrn"[42]. Mit der Stellung des Gutsherrn als Obrigkeit korrespondierte die seiner Bauern als seinen „Untertanen". Auch das spiegelt sich in der zeitgenössikschen Terminologie wider. Sie brachte zum Ausdruck, daß die zu einem Rittergut gehörenden Bauern und Landarbeiter nicht etwa in einem von der Privatautonomie geprägten Pacht- oder Arbeitsverhältnis zu ihrem Gutsherrn gestanden haben. Sie waren dem Gutsherren im strengen Sinne dieses Wortes untertänig. Der Gutsherr hieß nicht nur so; er war der Herr über seine Untertanen.

In der heutigen Sicht der Dinge lebten die Gutsuntertanen in einem lebenslänglichen besonderen Gewaltverhältnis. Daß sie zum Gut „gehörten", war mehr als nur eine façon de parler. Die Gutsuntertanen waren „an die Scholle gebunden", mithin menschliches Inventar des Gutes[43]. Daß sie dem Gutsherrn gehört hätten, wie das Nicolai Gogol in seinem Roman „Die toten Seelen" für Rußland festhält, kann man für die westeuropäischen Gutsuntertanen allerdings nicht sagen. In Deutschland haben sie nicht dem Herrn, sondern zum Gut gehört, was einen gewichtigen Unterschied macht[44]. Aber als Obrigkeit waren die Gutsherren nicht etwa die Arbeitgeber ihrer Untertanen. Sie waren die für sie zuständige lokale Verwaltungsinstanz.

In Beaumarchais „Tollem Tag" ist dies das zentrale Thema. Beaumarchais ging es um Sozialkritik. Die Schürzenjägerei des Grafen Almaviva lieferte ihm dafür nur den Aufhänger. Das eigentliche Ziel von Beaumarchais Attacken war nicht der Graf als Person, sondern die Gutsherrschaft als Institution, ohne die der Graf seine Spiele nicht hätte treiben können. Weil sich Sozialkritik schlecht in Musik umsetzen läßt, jedenfalls nicht in mozartsche, haben da Ponte und Mozart die Dinge umgedreht. Bei ihnen steht die Ehekrise im Vordergrund, die sich Almaviva mit seinen Seitensprung-Versuchen bei Susanna eingehandelt hat. Da Ponte hat das sozialkritische Element des Figaro aber keineswegs eliminiert. Es klingt in seinem Libretto lediglich verhaltener an als in Beaumarchais Original[45].

Da Pontes Zurückhaltung ändert freilich nichts daran, daß die Gutsherrschaft auch in Mozarts Figaro den Rahmen bildet, der die Handlung zusammenhält, ihr Sinn gibt und sie für das Publikum des Jahres 1786 verständlich gemacht hat[46]. Mit ihrem Figaro haben Mozart und da Ponte nicht auf Mythen und Märchen zurückgegriffen. Sie haben ihrem Publikum handfestes Gegenwartstheater geboten.

Geschichte und Wesen der Gutsherrschaft

Die Gutsherrschaft und die mit ihr eng verwandte Grundherrschaft[47] haben das europäische Leben außerhalb der Städte vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert geprägt. Sie geht auf die mittelalterliche Heeresverfassung und damit auf das Rittertum zurück. Das erklärt, warum sie überall in Europa anzutreffen war. Wo es Ritter gab, saßen sie auf Rittergütern, und Ritter gab es in allen Regionen Europas[48]. Die Ritter schuldeten ihrem Lehensherrn Ritterdienste, vor allem militärischer Art. Als Gegenleistung erhielten sie ein je nach ihrem Rang mehr oder weniger großes Gebiet und je nach dem ein Rittergut, eine Baronie, eine Grafschaft als Lehen.

Aus dem Gut, genauer aus dem zu ihm gehörenden Ackerland erwirtschafteten die Gutsherren ihren Lebensunterhalt und die Kosten, die sie für ihren Troß aufzuwenden hatten. Für die Feldarbeit standen ihnen ihre Untertanen zur Verfügung, die ihnen „Herrendienst" zu leisten hatten. Diese Herrendienst war Gegenstand vielfältig abgestufter Regeln. Für die Untertanen war vor allem von Wichtigkeit, ob sie nach Quantität und Qualität exakt definierte oder vom Herrn nach Gutdünken einforderbare Dienste schuldeten. In Deutschland und Österreich herrschte im 18. Jahrhundert das System der „gemessenen Dienste" vor[49]. Aber die Bindung an das Gut galt auch hier ungebrochen fort.

Die Bindung an die Scholle und der Herrendienst markieren nur die eine Seite der Gutsherrschaft. Die andere Seite bestand in der Verantwortung des Gutsherrn für seine Leute. Der Herr hatte für seine Leute zu sorgen, insbesondere dann, wenn sie sich im Alter oder wegen Krankheit nicht mehr aus eigener Kraft ernähren konnten. Wir haben es also mit einer auf Gegenseitigkeit beruhenden Sozialordnung zu tun, die auch den Herrn mit einer Fülle von Pflichten belastete. Der Herr war für das Seelenheil seiner Leute verantwortlich, was ihm das Kirchenpatronat eintrug. Er hatte die Dorfschule zu unterhalten[50]. Ihm oblag der Wegebau. Er rekrutierte die jungen Männer für den Militärdienst[51]. Er übte die Polizeigewalt in seinem Gutsbezirk aus, zu der die Brandbekämpfung und mit ihr das Spritzenhaus gehörte, das nebenbei als Arrestlokal für Missetäter diente, über die der Gutsherr die niedere Gerichtsbarkeit ausübte[52]. Die Jurisdiktionsgewalt des Gutsherrn schloß auch die Zivilgerichtsbarkeit ein, womit sich der Kreis schließt. Zur Gutsherrschaft gehörte das Patrimonialgericht[53], das gräfliche Gericht, vor dem Marcellina Figaro verklagt hat.

Die Gutsherrschaft hat den zentral gelenkten Behörden- und Beamtenapparat ersetzt, der erst mit dem Beginn der Neuzeit und auch dann nur sehr allmählich entstanden ist. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bildete die Gutsherrschaft neben dem Stadtregiment das lokale Fundament des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Herrschaftssystems. Erst mit dem Aufblühen des modernen Staates geriet die Gutsherrschaft mehr und mehr unter die Kontrolle des landesherrlichen Regiments. Das geschah am energischsten in Preußen. Aber so lange es keine Landräte und Landratsämter gab, die erst in den Reformjahren nach 1806 das Regiment über das „platte Land" übernahmen, beherrschten Gutsherren auch dort das Feld allein und nahezu souverän[54]. Es gab zwar auch freie Dörfer, die sich ihre Obrigkeit in der Gestalt eines Schultheißen selbst wählten. Es war auch nicht jeder, der in einem Gutsbezirk lebte und arbeitete, allein schon deshalb gutsuntertänig. Figaro war das mit Sicherheit nicht. Ihn hat Almaviva aus Sevilla mitgebracht. Als Stadtkind war er frei. Susanna indessen dürfte zum Gut gehört haben. Die Bauern, die den Chorgesang der Oper bestreiten, waren mit Sicherheit almavivaische Untertanen.

Wie dem auch immer sei: Guts- oder Grundherrschaft gab es allenthalben in Europa, ungeachtet ihrer faszinierenden Vielgestaltigkeit als signoria in Italien, seigneurie in Frankreich, demesne lordship in England, dem herrgård in Schweden etc., etc. Sie bewirkte, daß man streng zwischen Stadt und Land unterschied. Stadt und Land divergierten nicht nur in ihren Lebensbedingungen. Sie waren auch juristisch getrennte Welten. Hier der von der Bürgerschaft gewählte Magistrat, wir sprechen vom genossenschaftlichen Regiment, dort der Herr, wir reden vom patrimonialen oder personalen Regiment. Im Figaro begegnet uns ein fast photographisch genaues Abbild dieses patrimonialen Regiments, das derart ins Detail geht, daß es dieser Oper einen nachgerade veristischenZug verleiht. Ein wirklichkeitsfremdes Phantasieprodukt ist der Figaro jedenfalls mit Sicherheit nicht. Gerade dort, wo er für den modernen Betrachter am unwahrscheinlichsten wirkt, wurzelt er besonders fest in der Realität seiner Zeit.

Das Almavivaische Patrimonialgericht

Wie wirklichkeitsgetreu da Ponte die Dinge schildert, zeigt vor allem die Figur des Don Curzio, des Richters, der das absurde Urteil „o pagarla, o sposarla" fällt. Don Curzio verdankt sein Richteramt dem Umstand, daß die Gutsherren, als „Gerichtsherr" die eigentlichen Träger der Jurisdiktionsgewalt, nicht selbst zu Gericht zu sitzen pflegten, zum einen, weil sie sich ihre Zeit lieber mit standesgemäßeren Dingen als mit dem Urteilen über die Querelen ihrer Untertanen vertrieben haben, und zum anderen und vor allem, weil die wenigsten von ihnen über die auch in der ländlichen Justiz nötigen Rechtskenntnisse verfügten. Dem Studium der Rechtswissenschaft verschrieben sich vorwiegend die nachgeborenen Söhne des gutsgesessenen Adels. Ihnen öffnete die Ausbildung zum Juristen den Zugang zu gutdotierten, hochangesehenen Beamtenpositionen am landesherrlichen Hof, in den Städten, aber auch zu den Richterämtern an den Obergerichten, allen voran beim Reichskammergericht, dessen Richter zur Hälfte aus dem Adel gewählt werden mußten[55]. Die Erstgeborenen indessen schlugen zur Überbrückung der Zeit bis zur Übernahme des väterlichen Guts meist die Offizierslaufbahn ein. Wenn die Erstgeborenen studierten, dann nicht Rechts-, sondern Kameralwissenschaft, die speziell auf die Gutswirtschaft zugeschnittene Vorläuferin dessen, was wir heute Betriebswirtschaftslehre nennen.

Von ihrer Gerichtsherrschaft fühlten sich die Gutsherren in aller Regel überfordert und auch ennuyiert. In Deutschland untersagten zudem ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die meisten Monarchen den unstudierten Gutsherren die persönliche Ausübung ihres Richteramts strikt[56]. Daher mußten sie examinierte Juristen als Gerichtsassessoren oder Gerichtshalter einstellen, die ihnen diese Aufgabe abnahmen. Weil es die besseren Juristen in die Städte zog, beschieden sie sich meist mit den weniger qualifizierten der zweiten Wahl, die faute de mieux bereit waren aufs Land zu ziehen und sich dort mit einem bescheideneren Gehalt zufrieden zu geben. Die Richter der Patrimonialgerichte gehörten aus diesem Grund fast durchweg zu den minder qualifizierten Juristen. Darin glichen sie den Dorfschulmeistern und den Dorfpfarrern, denen ein gern zitierter Spottvers nachsagte „Kann er auch nicht Hebräisch lesen, so kann er doch sein Dorf verwesen". Bei den Pfarrern sorgte immerhin auf der katholischen Seite die Priesterweihe und auf der protestantischen die Ordination für die nötigen Mindeststandards. Bei den Juristen indessen fehlten vergleichbare Qualifikationsverfahren. Also landeten in der Patrimonialgerichtsbarkeit vorzugsweise die weniger Versierten und die weniger Engagierten[57]. Den Gutsherren waren sie gleichwohl willkommen, weil sie billig waren. Je unzulänglicher, desto billiger, und je billiger, desto besser lautete die Regel, nach der die Posten der Gerichtshalter vergeben wurden, wenn die landesherrliche Aufsicht nachlässig schaltete.

Dagegen setzte ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein energischer Kampf ein[58]. Vor allem Preußen und die geistlichen Territorien Deutschlands gaben sich beträchtliche Mühe, das Niveau der Patrimonialgerichte zu heben. Das ALR belegt das eindringlich[59]. Aber das ALR ist erst sechs Jahre nach der Uraufführung des Figaro in Kraft getreten, und der Richter Adam aus Heinrich von Kleists „Zerbrochenem Krug" enthüllt, daß dem ALR dabei kein durchschlagender und vor allem kein rascher Erfolg beschieden war. Daß Kleist seinen Adam in das niederländische Huisum versetzt, täuscht. Huisum ist ein geographisches Pseudonym. Es steht für ein Dorf, das wir in Brandenburg irgendwo in der Nähe Frankfurts an der Oder suchen müssen, wo Kleist Jura studiert hat und in das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten eingeführt worden ist[60].

Das Schloß Almaviva liegt fernab von Preußen. Dort war 1786, im Uraufführungsjahr des Figaro, von einer Reform der Patrimonialgerichte noch keine Rede. Halbgebildete juristische Minderkaufleute von Don Curzios Schlage beherrschten noch unangefochten die Szene. Wer sein Recht vor ihren Schranken suchen mußte, befand sich sehr in Gottes Hand. Er konnte nur sicher sein, ein Urteil zu erhalten. Auf die Richtigkeit dieses Urteils war kein Verlaß.

Zu den juristisch Halbgebildeten, denen Gott den zu ihrem Amt gehörenden Verstand vorenthalten hat, gehört auch Don Curzio. Er ist das feudale Gegenstück zum sozialistischen Volksrichter. Wie dieser, so war auch er für jede Einflußnahme von oben offen. Um unvoreingenommen und unparteiisch richten zu können, war er zu einfältig und zu wenig selbstbewußt. Drum entschied er so, wie es von ihm erwartet wurde. Für die Weisungen seines gräflichen Gerichtsherrn war er dankbar. Sie ersparten ihm das Nachdenken und bewahrten ihn vor der Gefahr, wegen allzu selbständigen Urteilens bei seinem Gerichtsherrn in Ungnade zu fallen. Don Curzio ist also kein Bruder der Phantasiegestalt Papageno. Unfähige Richter seines Schlages hat es im 18. Jahrhundert so gut wie überall gegeben. Drum haben da Pontes und Mozarts Zeitgenossen Don Curzios schlimmes Fehlurteil nicht weiter wunder genommen. Das eigentliche Skandalon war jedoch nicht Don Curzios juristische Unbedarftheit. Es war die Mißachtung der Justiz durch ihre lokalen Träger, die für ihre Vergnügungen oft mehr Geld aufgewandt haben als für ihre Patrimonialgerichte und damit aller Welt vor Augen geführt haben, daß ihnen die Gerechtigkeit, die sie ihren Untertanen schuldeten, nicht sonderlich am Herzen lag.

So gesehen trägt auch das an sich abenteuerliche Urteil des Don Curzio seine Realität in sich. Es geißelt den Mißstand, daß die gutsuntertänigen kleinen Leute des 18. Jahrhunderts Grund zu der Sorge hatten, Patrimonialgerichten zum Opfer zu fallen, denen derart absurde Fehlurteile leicht von der Hand gehen. Keine Märchengeschichte also, sondern realitätsnahe Justizkritik, die auch in der abgemilderten Version da Pontes ihr Gewicht als Beitrag zu einem ernsten Thema behalten hat.

Das nicht existente „ius primae noctis"

In einem Punkt haben sich allerdings Beaumarchais, da Ponte und Mozart doch weit von der Realität abgesetzt. Sie spielen auf Schritt und Tritt auf ein „altes Herrenrecht" an, „das die Liebenden belastet"[61], „das entehrt und beleidigt"[62]. Was diese Andeutungen meinen, wird - anders als die Gutsherrschaft und Patrimonialgerichtsbarkeit - auch heute noch auf Anhieb verstanden. Es ist das „ius primae noctis", das Recht des Gutsherrn auf die erste Nacht mit den Bräuten aus dem Untertanenstand seines Gutes. Almaviva hat auf dieses ominöse Recht coram publico verzichtet. Er rühmt sich, es aus seinem Lehensbrief gestrichen zu haben[63], um dafür insgeheim Susanna, die ihm ohne diesen Verzicht als nächste zum Opfer gefallen wäre, um so vehementer nachzustellen.

Auf das ius primae noctis hat Almaviva freilich nicht verzichten können. Denn dieses Recht hat nie existiert. Es gibt bis zurück in die graue Vorzeit keine Quelle, die belegte, daß es irgendwo im christlichen Abendland anerkannt gewesen wäre. Aber es gibt unzählbare Quellen, die berichten, daß von diesem Recht überall und zu allen Zeiten ununterbrochen phantasiert worden ist. Über das ius primae noctis werden noch heute dickleibige Monographien verfaßt. Obwohl nichts weiter als eine faustdicke Lügengeschichte, ist es nach wie vor der Gegenstand ernsthafter Forschung. Die jüngsten ihm gewidmeten Studien stammen, soweit ersichtlich, aus den Jahren 1988, 1995 und 1999[64]. Ein Fortschritt ist freilich zu verzeichnen: Das Interesse der Wissenschaft richtet sich neuerdings lediglich darauf, wie die tolldreiste Legende vom ius primae noctis hat aufkommen und Glauben finden können, nicht mehr darauf zu beweisen, daß es dieses Un-Recht tatsächlich gegeben habe.

Auch zu Mozarts Zeiten hat keiner den Unsinn vom ius primae noctis für bare Münze genommen. Aber er ist, wie die jüngsten Forschungen ergeben haben, in Spanien und Frankreich immer wieder beschworen worden, um die Gutsherrschaft zu diskreditieren[65]. Das dürfte den Grund dafür liefern, warum selbst Beaumarchais und da Ponte - an sich Schriftsteller von Geschmack - sich dieses Stereotyps bedient haben. Sollte dem so sein, so läge auch darauf immerhin ein halber Hauch von zeitgerechter Realität.

Ausblick

Es gäbe zwar noch vieles über die Gutsherrschaft und den Nachhall, den sie in der Literatur- und der Theatergeschichte gefunden hat, zu berichten. Das wenige, was hier zusammengetragen werden konnte, reicht vielleicht trotzdem aus zu zeigen, daß es sich lohnt, sich genauer in der Geschichte der Zeit umzusehen, in denen die klassischen Werke unsrer Musik- und Literaturgeschichte spielen.

Das könnte nebenbei die Protagonisten des modernen „Regie-Theaters" zum Nachdenken darüber anregen, ob es wirklich richtig ist, von Äschylos über Lessing, Schiller, Mozart, Richard Wagner bis hin zu Richard Strauss alles in eine Gegenwart zu verlegen, in die es par tout nicht paßt. Gewiß, es gibt Stücke, die das ertragen, weil sie nicht an die Zeit gebunden sind, in die sie ihre Autoren gestellt haben. Mozarts Cosi fan tutte z. B. verliert nichts von ihrer Stimmigkeit, wenn man sie vom 18. ins 21. Jahrhundert verlegt. Gugliemo und Ferrando müssen nicht unbedingt als Rokoko-Offiziere auftreten; sie überzeugen auch als Lufthansapiloten, Verkehrspolizisten, Handelsvertreter. Lortzings „Zar und Zimmermann" indessen geht kaputt, wenn man ihn vom ausgehenden 17. Jahrhundert in eine andere Epoche und von Holland in eine anderer Gegend verschiebt. Wer den Zaren Peter zum CIA-Agenten modernisiert, der für die USA im Irak nach biochemischen Kampfstoffen sucht, und aus dem Bürgermeister van Bett einen Taliban-Häuptling macht, der verbiegt „Zar und Zimmermann" zum schulmeisterhaften Agit-Prop-Theater und zerstört die Einheit von Musik und Handlung, die nicht nur diese, sondern so gut wie alle Opern auszeichnet.

Auch Mozarts Figaro gerät aus der Balance, wenn man ihn, wie geschehen, vom Schloß des Grafen Almaviva in ein New Yorker Hotel verpflanzt, aus dem Grafen Almaviva den Hoteldirektor, aus der Gräfin dessen Lebensgefährtin, aus Figaro den Hotelfriseur und aus Susanna ein trinkgeldgieriges Stockmädel macht. Denn für Don Curzio ist im Sheraton kein Platz, und Don Curzio gehört unverzichtbar mit dazu! Gelänge es der Europäischen Rechtsgeschichte Don Curzio als den zu erhalten, zu dem in da Ponte und Mozart geformt haben, dann wäre das ein Beweis mehr, daß die Beschäftigung mit der Rechtsgeschichte Sinn macht.

 

 

* 69117 Heidelberg, Fr.-Ebertanlage 6-10; Tel: (06221) 54 7466; Fax : (06221) 54 7791; Reinhard.Mussgnug@urz.uni-heidelberg.de

[1] Figaro, Don Giovanni und Cosi fan tutte werden hier in der umgekehrten Reihenfolge ihrer juristischen Ergiebigkeit behandelt. Chronologisch steht Figaros Hochzeit am Anfang (Uraufführung am 1. Mai 1786) gefolgt von Don Giovanni (Uraufführung am 29. Oktober 1787) und Cosi fan tutte (Uraufführung am 26. Januar 1790).

[2] II. Akt 13. Szene „Vo' che ancor questa sera doppie nozze si facciano".

[3] II/17 „Durch von mir aufgesetzten Vertrag werden zur Ehe verbunden Fiordiligi mit Sembronio und mit Tizio Dorabella".

[4]Per contratto da me fatto".

[5]Coram parocho proprio et duobus testibus"; so die seit dem Tridentischen Konzil von 1563 gültige Formel; näheres über sie bei Dölle, Familienrecht, Bd. 1, 1964, S. 182.

[6] Über da Pontes Herkunft und Schicksal informieren der Auszug aus seinen Memoiren „Mein abenteuerliches Leben", RoRoRo-Klassiker 6, 1960 und das Nachwort zu ihnen von Walter Klefisch. Da Pontes Zusammenarbeit mit Mozart würdigt höchst lesenswert Richard Bletschacher, Mozart und da Ponte, Chronik einer Begegnung, 2004.

[7] Die bühnenübliche deutsche Übersetzung des Beccavivi-Textes korrigiert das kurzangebunden. Sie redet statt von Ehe (matrimonio) nur von Verlobung (sponsalia): „Pakta sind schön stilisieret, nach dem Jus verklausulieret, alle Regeln observieret; Wird mein Husten sich nur legen, les' ich die Sponsalia." Juristisch ist das korrekt; philologisch stimmt es nicht. Bei da Ponte verbindet Despina die beiden vertauschten Paare zur Ehe („si congiunge in matrimonio").

[8] Das wäre nur mit Hilfe einer Zauberei zu umschiffen gewesen, die entweder Ferrando und Guglielmo vorübergehend mit einer anderen Identität ausgestattet oder Fiordiligis und Dorabellas Wahrnehmung so nachhaltig getrübt hätte, daß sie die Camouflage ihrer Verlobten nicht hätten durchschauen können. Das hätte die Handlung freilich zu sehr ins Märchenhafte verschoben und damit den Reiz des Libretto verdorben.

[9] Einem Gerücht zufolge geht Cosi fan tutte auf eine Affäre in Wiener Militär-Kreisen zurück, bei der zwei junge Offiziere ihre Bräute getauscht und damit Aufsehen erregt haben sollen. Es soll Josef II. selbst gewesen, der da Ponte nahegelegt habe, diese Geschichte für die Opern-Bühne aufzubereiten; dazu Bletschacher (Fn. 6), S. 139 ff. Sicher ist freilich nur, daß Josef II. Cosi fan tutte Mitte Februar, wenige Tage vor seinem Tod am 20. Februar 1790 besucht, aber sich nicht mehr zu ihr geäußert hat.

[10] So § 1 des Josefinischen Ehepatents: „Die Ehe an sich selbst, als ein bürgerlicher Vertrag (Contract) betrachtet, wie auch die aus diesem Vertrage herfließenden, und den Vertrag errichtenden gegen einander zustehenden bürgerlichen Gerechtsame und Verbindlichkeiten erhalten ihre Wesenheit, Kraft und Bestimmung ganz und allein von den landesfürstlichen Gesetzen; die Entscheidung der hierüber entstehenden Streitigkeiten gehört also für die landesfürstlichen Gerichtsstellen." Mit anderen Worten: Was der Heirat als Ehehindernis im Wege steht, regelt nicht das Kirchenrecht, sondern „ganz und allein die landesfürstlichen Gesetze". Näheres zu dem Patent bei Ogris, Mozart im Familien- und Erbrecht seiner Zeit, 1999,. S. 83 ff.

[11] Das ergab sich aus § 10 des Ehepatents von 1783: „Drittens: Sollen Ehen zwischen einem Unterthan, der der christlichen Religion zugethan, und einem andern, der der christlichen Religion nicht zugethan ist, nichtig und ungültig seyn."

[12] „Don Juan - Eine fabelhafte Begebenheit, die sich mit einem reisenden Enthusiasten zugetragen"

[13] Mozart und da Ponte haben ihren Don Giovanni ganz anders gesehen. Sie nannten die Oper „Il dissoluto punito, o sia Il Don Giovanni" (Der bestrafte Wüstling oder Don Giovanni), was zwar keineswegs in Vergessenheit geraten ist, aber seit Hoffmanns Umkehrung des Giovanni-Bildes vom Bösewicht zum Publikumsliebling fast durchweg ignoriert und hinweginszeniert wird. Hartmut Steinecke, E. T. A. Hoffmann, Fantasiestücke in Callot's Manier, in E. T. A. Hoffmann, Sämtliche Werke 2/1, 1993, S. 680 spricht mit gutem Grund von „gravierenden Umdeutungen, die nichtsdestoweniger ... auf das nachhaltigste auf spätere Interpretationen und Aufführungen gewirkt haben."

[14] Entweder - Oder, Teil I, Bd. 4 der dtv-Gesamtausgabe 2005

[15] Kritisch zu dieser von da Pontes und Mozarts Sicht der Dinge weit entfernten Einschätzung des Don Giovanni Dieter Borchmeyers erhellender Essay „Um einen Don Giovanni ohne 19. Jahrhundert bittend" in ders. „Mozart oder die Entdeckung der Liebe", 2005, S. 142 ff.

[16] I/3: „Cercatemi, recatemi qualche odor, qualche spirito (Sucht und bringt mir Riechsalz, Alkohol)."

[17] I/13 „Non dubitate più. Gli ultimi accenti che l'empio proferì, tutta la voce richiamar nel cor mio di quell'indegno che nel mio appartamento ... (Zweifelt nicht mehr! Die letzten Worte, die der Gottlose sprach, die ganze Stimme ruft mir die Entwürdigung in meiner Wohnung in mein Herz zurück).

[18] II/10 „Dopo eccessi sì enormi, dubitar non possiam che Don Giovanni non sia l'empio uccisore del padre di Donn'Anna".

[19] So die im Internet unter <www.impresario.ch//synopsis/index.htm> - der Standardfundstelle für Opern-Libretti - zu findende Übertragung. In der Übersetzung der Eulenburgischen Taschenpartitur zeigt Don Ottavio zwar etwas mehr Tatendrang. „Dann laßt mich ohne Säumen euch alle rächen und den Frevler bestrafen". Aber selbst das bleibt unklar und unverbindlich. Was er konkret tun will, sagt Don Ottavio auch hier nicht.

[20] Noch freier, aber gleichwohl exakt und dazu auch noch singbar die vorzügliche neue Übertragung von Bettina Bautz und Werner Hintze, die die Komische Oper Berlin derzeit für die Don Giovanni-Inszenierung Peter Konwitschnys verwendet: „Ich wende mich an die zuständigen Stellen und sorge dafür, daß er (Don Giovanni) schnellstens bestraft wird".

[21] Daß die deutschen Übersetzungen die „ministri di giustizia" samt und sonders unterschlagen, versteht sich nachgerade von selbst; sie passen nicht in das traditionelle Don-Ottavio-Bild.

[22] Hubert Mader, Duellwesen und altösterreichisches Offiziersethos, 1983, S,. 116

[23] Im Duell lebte die seit dem Ewigen Landfrieden von 1495 verbotene Fehde weiter. Das Duell war im Grunde nichts anderes als eine Fehde ohne Truppeneinsatz. Um so ungehemmter breitete sich die Unsitte des Duellierens aus. Fehde verkünden konnte nur, wer Truppen ins Feld führen konnte; das Duell stand jedem offen, der eine Waffe zu führen verstand.

[24] Dazu Wolf/von Zwiedineck-Südenhorst, Österreich unter Maria Theresia, Josef II. und Leopold II., 1884, S. 265 ff.

[25] Fn. 15, S. 160

[26] Vollkommen friedfertig ließen da Ponte und Mozart ihren Don Ottavio allerdings nicht auftreten. In der Schlußszene des 1. Akts tritt er Don Giovanni „cavando una pistola (mit gezogener Pistole)" entgegen, als dieser versucht, Zerlina Gewalt anzutun. Aber das ist ein anderer Fall. Hier übt Don Ottavio Nothilfe in akuter Gefahr, so wie sie auch der Komtur geübt hat, als er versuchte Don Giovannis Überfall auf Donna Anna abzuwehren.

[27] Für ihren Don Ottavio gab es kein Vorbild. In Giuseppe Gazzanigas nur 7 Monate älteren, in Venedig sehr erfolgreichen „Don Giovanni, o sia Il Convitato di Pietra", der Mozart und da Ponte zu ihrem "Don Giovanni" angestoßen hat, gibt es zwar ebenfalls einen Ottavio, hier einen Herzog. Aber von ihm macht das von Giovanni Bertati für Gazzaniga verfaßte Libretto nicht viel Aufhebens. Sein Ottavio beklagt zu Beginn, daß ihn Don Giovannis Dazwischentreten zum Aufschub seiner Heirat mit Donna Anna zwingt; zum Schluß singt er im Ensemble mit, das seiner Freude über Don Giovannis Untergang Ausdruck verleiht. Dazwischen ist er auf der Bühne nicht zu sehen. Für da Pontes Don Ottavio hat Bertatis Duca Ottavio daher lediglich den Vornamen geliefert; ein Vorbild für ihn war er eindeutig nicht.

[28] Unklar bleibt allerdings, ob Hoffmann in der Don-Juan-Novelle für sich selbst gesprochen hat. Bei dieser Novelle handelt es sich um eine Brieferzählung, in der ein „reisender Enthusiast" über eine Don Giovanni-Aufführung berichtet. Hoffmann deckt nicht auf, ob er sich mit diesem Enthusiasten identifizieren wollte, oder ob er ihn nur benutzt hat, um zu illustrieren, wie die Figur des Don Juan leicht entflammbare Gemüter zu enthusiasmieren vermag, wenn Mozarts Musik sie verklärt.

[29] In dieser Rolle agiert Figaro als die Titelfigur von Rossinis „Barbier von Sevilla", der Vorgeschichte von Mozarts Figaro, die ebenfalls auf eine Intrigen-Komödie Beaumarchais zurückgeht.

[30] II/11 „Un impegno nuziale ha costui con me contratto. E pretendo che il contratto deva meco effettuar (Eine Verpflichtung zur Heirat hat der Vertrag mit mir begründet. Und ich bestehe darauf, daß der Vertrag erfüllt wird.)"

[31] I/3

[32] II/1 2 „Vengo qui per testimonio del promesso matrimonio con prestanza di danar (Ich komme, um das mit einem Darlehen verbundene Eheversprechen zu bezeugen)".

[33] Basilios Aussage von dem mit einem Darlehen verbundenen Eheversprechen läßt auch an ein Verlobungsgeschenk denken, das beim Scheitern des Verlöbnisses zurückzuerstatten ist. In Betracht kommt ferner ein Darlehen mit auflösend bedingter Rückzahlungspflicht. Aber auch diese beiden Deutungen, befreien Figaro nicht aus der Kalamität, Marcellina entweder ausbezahlen oder sie heiraten zu müssen. Davon abgesehen spricht die unverhohlene Abneigung, die Figaro Marcellina gegenüber an den Tag legt, nicht gerade dafür, daß er sich je zu einem Verlöbnis oder auch nur Vor-Verlöbnis mit ihr habe hinreißen lassen. Näher liegt, Figaros Heiratszusage als eine Art Selbstverpfändung zu interpretieren, wie sie in der Gestalt des Versprechens, Geldschulden im Falle der Zahlungsunfähigkeit abzuarbeiten, häufiger vorkommt.

[34] Paulus Dig. 18,1, 34,6

[35] Reichold, in: Thomas/Putzo, ZPO Kommentar, 25. Aufl. 2003 § 260 Rdnr. 7; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 62. Aufl. 2004 § 260 Rdnr. 7.

[36] I/3 „Avrei pur gusto di dar per moglie la mia serva antica a chi mi fece un dì rapir l'amica". Damit spielt Bartolo auf die Vorgeschichte von Figaros Hochzeit in Rossinis „Barbier von Sevilla" an. Dort wird geschildert, wie Almaviva mit Figaros Hilfe Bartolos Mündel Rosina aus dessen Haus entführt und damit Bartolos Hoffnung zerstört hat, Rosina selbst heiraten und ihr Vermögen an sich bringen zu können.

[37] III/4 „Das Urteil soll nach meinem Geschmack ausfallen".

[38] Die Übersetzungen des Librettos reden entweder von einem Mutter-, oder einem Brandmal. Das eine ist falsch und das andere zu grausam. Da Pontes Libretto spricht von einem „impresso geroglifico", einer entweder „eingeprägten" oder „eingebrannten Hieroglyphe". Weil man Säuglinge nicht brandmarkt, dürfte „eingeprägt = tätowiert", die korrektere, auf jeden Fall aber die humanere Übersetzung von „impresso" sein.

[39] Manrico aus Verdis „Troubadour" ist Ähnliches widerfahren.

[40] Eine rühmliche Ausnahme macht Wolfgang Ruf, Die Rezeption von Mozarts „Le Nozze di Figaro" bei den Zeitgenossen, 1977, S. 22 ff.

[41] Typisch dafür die Claus Guths Salzburger Inszenierung des Festspieljahres 2006, in der Don Curzio nicht als Richter zu erkennen und der Marcellina-Prozeß nicht als solcher wahrzunehmen ist.

[42] Der Kammerherr der Bauernkantate war allerdings ein Sonderfall. Er saß anders als die Gutsherren nicht auf eigenem Grund und Boden, sondern verwaltete ein dem Landesherrn gehörendes Domänengut. Vom Gutsherrn unterscheidet sich der Kammerherr vor allem dadurch, daß er bei seiner Funktion als Obrigkeit einer engen landesherrlichen Fachaufsicht unterstand, während die Gutsherrn auch als Obrigkeit zwar an die Gesetze des Landes gebunden waren, aber ansonsten frei schalten konnten.

[43] Sie waren in der Sprache des § 150 II 7 ALR „zum Gut geschlagen" und durften das Gut „ohne Bewilligung ihrer Grundherrschaft nicht verlassen". Im übrigen aber waren sie „in ihren Geschäften und Verhandlungen freye Bürger des Staates"; das betont § 147 II 7 ALR mit Nachdruck.

[44] Den isolierten Verkauf der Untertanen oder ihre sonstige Abtretung „ohne das Gut", wie sie Gogol schildert, verbot § 151 II 7 ALR ausdrücklich. Wurde das Gut verkauft, so gingen mit ihm allerdings auch die Untertanen auf den Käufer über.

[45] Das ist freilich nicht aus Rücksichtnahme auf den Kaiser geschehen. Josef II. war ein erklärter Gegner der Gutsherrschaft; er hat sie auf seinen Domänengütern aufgehoben. Für Kritik an ihr war er durchaus offen. Den Figaro hat er so denn auch vorbehaltlos goutiert. Gefahr drohte da Ponte und Mozart nur, weil die kaiserliche Zensurbehörde dazu neigte, hinter jeder Frivolität einen Anschlag auf die öffentliche Moral zu argwöhnen.

[46] Ruf, (Fn. 40), S. 23 beanstandet zu Recht, daß dies in der musikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Figaro zu wenig bedacht wird.

[47] Guts- und Grundherrschaft sind keine Synonyme. Von Grundherrschaft spricht man dort, wo der Grundherr sein Land an seine Bauern verpachtet hat und von deren Pachtzinsen lebt, während der Gutsherr das Gut selbst bewirtschaftet. Die Funktion der lokalen Obrigkeit haben die Grundherren allerdings ebenso wahrgenommen wie die Gutsherren.

[48] Dazu grundlegend Willoweit, Verwaltung im ausgehenden Mittelalter, in: Jeserich/Pohl/von Unruh, Deutsche Verwaltungsgeschichte Bd. 1, 1982, S. 66 f.; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte, 3. Aufl. 1997, S. 43 ff.; Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte Bd. 2, 1966, S. 210; Sprandel, Verfassung und Gesellschaft im Mittelalter, 5. Aufl. 1994, S. 43 ff., 182 ff. Zur Grund­herrschaft in den Nachbarländern Deutschlands z. B. Schmale, Vergleichende Analyse der Seigneurie in Burgund und der Grundherrschaft in Kursachsen, in: Lubiaski (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell, 1995, S. 101 ff. und Christiansen, Lebensstile im Gutsdorf des 18. Jhd. - Kultur und Kontraste unter den ostdänischen Gutsbauern, ebenda S. 129 ff.

[49] Für Preußen belegen das die §§ 308-471 II 6 ALR.

[50] Das lieferte Karl Arnold Kortum den Stoff für das 27. Kapitel seiner 1784 erschienenen „Jobsiade". Dieses Kapitel ist nicht ganz so berühmt wie das von Wilhelm Busch plagiierte 19., das über das mißlungene Predigtamts-Examen des Kandidaten Hieronimus Jobs berichtet und mit seinem cantus firmus „Über diese Antwort des Kandidaten Jobses geschah allgemeines Schütteln des Kopfes" Eingang in Büchmanns „Geflügelte Worte" gefunden hat. Das 27. Kapitel verdiente die gleiche Beachtung; es ist ein markantes Zeugnis der Verwaltungsgeschichte des 18. Jahrhunderts.

[51] Das erklärt die kurz angebundene Abschiebung Pagen Cherubino auf eine freie Offiziersstelle Regiment des Grafen Almaviva in I/8: „Vacante è un posto d'uffizial nel regiomento mio, io scelgo voi; partite tosto (In meinem Regiment ist eine Offziersstelle frei; ich habe euch für sie ausgewählt; reißt auf der Stelle ab)!".

[52] Auch davon ist im 27. Kapitel der Jobsiade (Fn. 20) die Rede.

[53] Dazu Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, 1953, S. 8 ff.; Werthmann, Vom Ende der Patrimonialgerichtsbarkeit, 1995, S. 17 ff.

[54] Für das Rußland des frühen 19. Jahrhunderts illustriert das Tolstoi in „Krieg und Frieden" besonders anschaulich.

[55] Vgl. Willoweit, Verfassungsgeschichte (Fn. 58), S. 101; Döhring (Fn. 53); S. 50 ff.

[56] Vgl. für Preußen § 76 II 17 ALR: „Wer seine Gerichtsbarkeit nicht selbst verwalten kann oder will, muß einen vom Staate zu dergleichen richterlichem Amte geprüften und tüchtig befundenen Gerichtshalter bestellen". Dazu und überhaupt zu den preußischen Reformen der Patrimonialgerichtsbarkeit Werthmann (Fn. 5), S. 26 ff.

[57] Nach der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sah es vor allem in Deutschland anders aus. Die Referendare begannen in die Patrimonialgerichtsbarkeit einzudringen, die ihnen eine günstige Gelegenheit bot, die Zeit bis zur Übernahme in ein einträglicheres Amt der staatlichen Justiz in einer bescheiden bezahlten, aber immerhin besoldeten Position zu überstehen. Vgl. Werthmann (Fn. 53), S. 32 f.

[58] Dazu Werthmann (Fn. 53), S. 32 f.

[59] Signifikant § 76 II 17 ALR (Fn. 56)

[60] Adams Amtstitel „Dorfrichter" stimmt nicht. Den Begriff „Dorfrichter" verwendet das ALR synonym mit dem des „Schulzen". Nach § 46 II 7 ALR war „der Schulze oder Dorfrichter der Vorsteher der Gemeine" Rechtskenntnisse wurden von ihm nicht verlangt; er mußte lediglich „des Lesens und Schreibens nothdürftig kundig, und von untadeligen Sitten seyn" (§ 51 II 7 ALR). Vor allem aber sollte er „sich in Entscheidung streitiger Rechtshändel nicht mischen" (§ 80 II 7 ALR). Der Dorfrichter war also in Wahrheit gar kein Richter; er hieß nur so. Adam indessen gehörte eindeutig zum Richterstand. Er sollte zu Gericht sitzen und sich in Gesetz und Recht auskennen. Außerdem hat ihn ein Obertribunalrat visitiert, der nur für das Justizpersonal zuständig war und mit den Dorfrichtern i. S. des § 46 II 7 ALR nichts zu schaffen hatte. Kleist hat Adam wohl nur wegen des abschätzigen Beigeschmacks dieser Titulierung einen „Dorfrichter" genannt. Daß Adam kein Dorf- sondern ein echter Richter, wahrscheinlich eines Gerichts in einer zu keinem Gutsbezirk gehörenden Kleinstadt war, dürfte Kleist vertraut gewesen sein. Es sieht so aus, als habe er sich mit Adam die dichterische Freiheit herausgenommen, von der er auch im „Prinzen von Homburg" und im „Michael Kohlhaas" regen Gebrauch gemacht hat. Beaumarchais und da Ponte sind mit der historischen Wahrheit penibler umgegangen.

[61] I/8 Un diritto sì ingrato a chi ben ama".

[62] III/14 „Un dritto ... che oltraggia, che offende".

[63] I/8 „E un dritto ingiusto ne' miei feudi abolendo, a natura, al dover, lor dritti io rendo (es ist ein ungerechtes Recht, mit seiner Streichung aus meinem Adelsbreif habe ich der Natur ihr Recht, wie es sich geziemt, zurückgegeben)".

[64] Wilhelm Schmidt-Bleibtreu, Jus primae noctis, 1988 ; Alain Boureau, Le droit de cuissage, La fabrication d'un mythe XIIIe - XXe siecle, 1995, deutsch: Das Recht der Ersten Nacht - Zur Geschichte einer Fiktion - 1996; Jörg Wettlaufer, Das Herrenrecht der ersten Nacht, 1999.

[65] Die Anzeichen deuten darauf hin, daß das Gerede um das ius primae noctis auf eine in Spanien von den Gutsherrn den Brautleuten abgeforderte Heirats-Steuer zurückgeht, die neben Wut und Empörung auch Hohn und Spott ausgelöst hat. Es sieht so aus, als seien Wut und Empörung mit dem Wegfall dieser Steuer verraucht, Hohn und Spott aber lebendig geblieben. In Frankreich hat das ius primae noctis im 18. Jahrhundert vor allem für die Legitimierung des geistlichen Regiments herhalten müssen; das ius primae noctis wurde als ein der weltlichen Obrigkeit anhaftendes Übel abgefeiert, um den Leichtgläubigeren der Landbevölkerung die Überlegenheit des geistlichen Regiments vor Augen zu führen, das per se Sicherheit vor derartigen Heimsuchungen gewährleistete.

 


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